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Pierre Fischer - SYNESTHESIA

 

Schon 1760 war der Philologe Christian Adolph Klotz darum bemüht, mit wissenschaftlich anmutender Systematik die Eigenheiten einer bestimmten Epoche aufzuzeigen. Der Disput mit seinem Zeitgenossen Johann Gottfried Herder, der sich vehement gegen die Untersuchungen von Klotz stellte, führte zur Begriffsfindung des so genannten „Zeitgeistes“ und dem, was wir heute noch darunter verstehen - die Denk- und Fühlweise einer bestimmten Zeit zu fassen.[1] Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Literaten, Künstler, Historiker, Philosophen oder Kulturkritiker immer wieder darum bemüht, das Zeitgefühl anhand historischer oder zeitgenössischer Entwicklungen sowie deren Verknüpfungen auszumachen und zu dokumentieren.

Auch Pierre Fischers künstlerisches Werk thematisiert den Zeitgeist, das Zeitgefühl der Gegenwart. Seine Bilder kommentieren in einer ganz individuellen Sichtweise Zeitgeschichte(n). Man kann sie als Chronik auffassen. Inhaltlich wie auch malerisch zeigt sich in den Arbeiten ein dynamischer, offener  Prozess, denn es geht nicht um die thematische Abgrenzung oder Untersuchung eines bestimmten Zeitraumes oder Inhaltes durch die Malerei, sondern um das Aufzeigen von Veränderungen und Entwicklungen der Geschichte in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Inhaltlich kommt in den Bildern das zum Tragen, was Pierre Fischer berührt, was ihn beschäftigt, was er beispielsweise auf seinen Reisen erlebt. Zufällige Begegnungen, Musik, Literarisches oder persönliche Momente hinterlassen Spuren, die sich als Motive in den Bildern wieder finden. Vielschichtige malerische und gestalterische Prozesse dokumentieren die Komplexität gedanklicher Entwicklungsgänge. Inhalt und Form der Bilder sind untrennbar miteinander verbunden und bringen eine ganz eigene Ikonografie und bildimmanente Sprache einer „Mixed Reality“ hervor.

Die Arbeiten entstehen ohne Vorplanung. Auslöser ist ein Impuls oder auch ein Motiv aus einem Archiv, das in Form von Notizen und Fotografien vom Künstler angelegt ist und stetig fortgeführt wird. So entwickeln sich während des Malprozesses Kontexte innerhalb unterschiedlicher Elemente und Motive, die aus verschiedenen Ursprüngen kommen. Deren eigentliche Geschichte ist immanent. Doch in der Kombination, ihrer Gleichzeitigkeit und Parallelität, entstehen neue offene Inhalte, die dem Betrachter vielfältige Folgerungen oder Interpretation erfordern.

Pierre Fischers Malerei ist nahe am Realen. Trotzdem erfolgt gestalterisch und kompositorisch eine Transposition in eine andere Wirklichkeit, denn es geht nicht darum, die Welt abzubilden. Stadt, Raum und Menschen bilden thematische Schwerpunkte, die jedoch keine direkten Referenzen zur Geschichte anbieten. Konzeptuell sind die Arbeiten eher motivisch angelegt. Manche Motive tauchen auch nach Jahren im Werk wieder auf.

Zentrale Bezugspunkte in den Bildern sind menschliche Gestalten. Sie stehen manchmal für sich allein oder in Beziehung zueinander. Es gibt aber auch Gruppen, die nichts miteinander zu tun haben. Hinter jeder Figur verbirgt sich eine persönliche Geschichte, eigene Hintergründe, ein individuelles Schicksal. Sie stehen metaphorisch für Lebensaspekte unserer Zeit, die der Betrachter durch sein individuelles Wissen und seien Erfahrungen entschlüsseln kann. Körperhaltung und Blickrichtung der Personen schließen jedoch eine direkte Verbindung zu ihm aus, denn es geht nicht darum, alles zu erfahren, sondern zu fragen: „Was wäre, wenn…?“ Diese Distanz hält das Bild offen.

Offenheit ist ein wichtiger Aspekt im Werk Pierre Fischers. Sie lässt sich nicht nur anhand der Ikonografie ablesen, sondern zeigt sich auch in den gestalterischen Mitteln.

Losgelöst von der klassischen Vorstellung von Perspektive, wird der Bildraum so weit wie möglich geöffnet. Denn Menschen und Gegenstände scheinen der Schwerkraft der Erde entrückt. Mit dem Blick in Richtung Himmel ergeben sich fantastische neue Räume, erschließen sich ungewohnte Ebenen. Monochrome Farbräume, grafische Elemente und Farbflächen versetzen durch ihre Ausrichtung, ihre Schichtungen, Überschneidungen und Staffelungen Motive und Elemente in Bewegung. Gleichzeitig bedingen sie somit auch den Aspekt der Zeitlichkeit innerhalb des Bildes.

Der gezielte Einsatz maltechnischer Qualitäten von Öl-, Acryl- und Lackfarbe ermöglicht das Einbringen von Strukturen entsprechend dem jeweiligen Materialcharakter. Licht bricht sich in Pinselspuren auf der Oberfläche oder dringt aus der Tiefe lasierender Ölmalerei hervor. In aquarellierend gemalten Farbwolken oder Tropfen erscheinen zuweilen architektonische Räume oder Landschaften, um sich schließlich wieder in einem neuen Farbraum aufzulösen oder unter Strukturen zu verschwinden. Die figürlichen Darstellungen sind zumeist in Positiv-negativ-Manier gemalt.

Die zuvor beschriebenen Gestaltungsmittel dienen in erster Linie der Intention des unbedingten Offenhaltens des Bildes in Inhalt und Form. Der Betrachter ist aufgefordert, fehlende Elemente imaginär zu ergänzen oder Vorhandenes als Metapher zu interpretieren. Der Betrachter wird zur Kommunikation aufgefordert und erhält die Freiheit, aus dem, was er erkennt und wahrnimmt, eine eigene Sichtweise zu formulieren. Die besondere Farbigkeit der Arbeiten sowie deren Titel versteht Pierre Fischer als „poetische Stimulationselemente“ und Aufforderung zugleich, Assoziationen in Gang zu setzten. Der Titel darf das Bild nicht enthüllen. Ziel ist es, Fragen zu stellen, Antworten offen zu lassen und nicht die eine festgelegte Geschichte zu erzählen.

Seine Arbeiten haben einen synästhetischen Charakter, denn sie entstehen im ersten Impuls aus einer sinnlichen Wahrnehmung und aus intellektueller Welterkenntnis. Dem Betrachter bieten sie Reflexionsmöglichkeiten auf gleichen Ebenen – der emotionalen und verstandesmäßigen. Tatsächlich Vorhandenes und Imaginäres fügen sich zu einem atmosphärischen Bildraum zusammen im Grenzbereich zwischen realen Bezügen und der Auflösung in eine andere Dimension.

Pierre Fischers Arbeiten sind Ausdruck subjektiven, innersten Nachsinnens über die Zusammenhänge und Befindlichkeiten der Zeit und ihrer Geschichte - mit großem analytischen Potenzial für den Künstler und den Betrachter.

Jutta Meyer zu Riemsloh


[1] Nach Hermann Joseph Hiery:Der Historiker und der Zeitgeist, o.D., online unter http://www.neueste.uni-bayreuth.de/ZeitgeistEinleitung.htm, abgerufen am 29.8.2013