Malerei ist heute nicht mehr denkbar ohne die technologische Entwicklung und zunehmende Mediatisierung von Bildern in unserer Welt. Zugleich steht sie im Kontrast zu der allgegenwärtigen Bilderflut, die unser Leben in immer größerem Maße bestimmt und die durch schnellen Wechsel, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Der Faktor Zeit spielt in der Malerei eine ganz andere Rolle: Sie hat mit Langsamkeit zu tun, mit Durchdachtheit und Dauer und vermag Geschichte und den Sinn von Bildern neu zu interpretieren, zu erfinden, zu umschreiben oder umzuwandeln. Dieses Verständnis von Zeit und Wandlung prägt Pierre Fischers Werk, der uns in diesem Sinne einlädt – auch auf die Gefahr eines Anachronismus hin –, seinem Blick auf die zeitgenössische(n) Geschichte(n) zu folgen.

In seinen mehrschichtigen und collageartigen Arbeiten stellt er Figuren, Gegenstände, Szenen und Räume unterschiedlichen Ursprungs und aus unterschiedlichen Kontexten nebeneinander, setzt sie zueinander ins Verhältnis, lagert sie übereinander. So entsteht eine Bilderwelt, die nicht einfach nur darstellen will, sondern mit ihrer – im wahrsten Sinne des Wortes – Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit Raum bietet für eine Vielzahl von Interpretationen. Es ist das Prinzip der Assoziation, das die Interpretationsebenen zueinander in Beziehung treten und sich weiter entwickeln lässt, das dem Betrachter den Übergang von einer zur anderen Interpretationsebene ermöglicht. Er lädt nicht nur zu unterschiedlichen Lesarten des Bildes ein, sondern setzt auf Wiedererkennungseffekte, fordert den Betrachter heraus, sich einzulassen, persönlich verstrickt zu werden, will seine Wahrnehmung von Zeit und seine Erinnerung in Frage stellen.

Pierre Fischers Arbeiten entstehen in der Auseinandersetzung mit visuellen Dokumenten (Photos, Filme, Computerbildern), oder mit Texten, persönlichen Eindrücken oder Erfahrungen. Die verwendeten Dokumente zeichnen sich durch ihren suggestiven oder allegorischen Charakter, ihre symbolische Kraft, ihre Mehrdeutigkeit, und nicht zuletzt durch ihren künstlerischen Wert aus. Dabei steht nicht so sehr das Dokument selbst im Mittelpunkt, als vielmehr die Spuren, die es hinterlassen hat. In erster Linie stammen die von Pierre Fischer verwendeten Dokumente aus den Informationsmedien, sie sind gerade aktuell oder schon wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden – vielleicht erinnert man sich noch an sie, auch wenn sie längst niemanden mehr interessieren (ab wann wird Aktualität zur Vergangenheit?). Er möchte herausfinden, wie diese Bilder wieder ins Bewusstsein gerufen werden können, wie Erinnerung funktioniert. Oft basieren seine Arbeiten auch auf historischen Dokumenten „älteren Datums“; er verbindet sie mit Elementen der Gegenwart und verweist so auf die Zeitlosigkeit des Menschlichen. In seiner Auseinandersetzung mit der heutigen geopolitischen Lage und mit historischen Entwicklungen möchte er wiederkehrende Muster und Strukturen herausfiltern und sichtbar machen.

Die menschliche Gestalt, von Anfang an zentral in Pierre Fischers Werk, wird dabei selbst in einen Kontext der Zeitlosigkeit gesetzt, die über ihre Evolution durch die Epochen hindurch hinausweist. Pierre Fischer ist auf der Suche nach ihren Konstanten: Inwiefern gibt es eine Zeit und Raum überwindende Morphologie, Gestik, Sprache? Inwiefern haben Menschen im Laufe der Geschichte immer wieder auf die gleichen Verhaltensmuster, die gleichen Schutzmechanismen und Verteidigungsstrategien zurückgegriffen? Aber nicht nur die Stärken und Schwächen des Menschen, auch seine Spiritualität, seine Sensualität und Emotionalität, seine Psyche, seine Kultur und Identität(en) sind das „Material“, mit dem Pierre Fischer arbeitet.

Für Pierre Fischer sind Form und Inhalt nicht voneinander zu trennen. Indem er sich der menschlichen Gestalt auf unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Interpretationsebenen nähert, zeigt er, wie facettenreich und zugleich verletzlich diese ist. Auch Technik und Kontext sind bei Pierre Fischer eng miteinander verwoben und führen zu einer Lesart des Bildes jenseits der bloßen Realität.
Die für seine Arbeiten verwendeten Techniken wie Acryl, Öl, Lack, Schablonen, Farbspray, Collage tragen dazu bei, die unterschiedlichen Szenen und Fragmente zu entwirren oder zu verbinden, spielen jedoch auf der Leinwand immer wieder eine andere Rolle, je nachdem, welche Funktion ihnen zugewiesen wird. Es geht darum, die Qualität des Materials selbst, die ihm innewohnenden Intelligenz einzusetzen.

Pierre Fischers Arbeitsweise erinnert oft an eine Inszenierung, in der Protagonisten, Gegenstände und Räume auftauchen und wieder verschwinden, ohne dass es ein zuvor festgelegtes Drehbuch gäbe. Ähnlich einem Layouter arbeitet er mit immer wieder neuen Bildeinstellungen; rein graphische Zeichen ordnen das scheinbare Chaos im oftmals nur angedeuteten Raum an. Architektonische Räume tauchen oftmals nur als Struktur, als Gerüst auf und erhalten so einen fast fiktiven, virtuellen Charakter – präsent und durchsichtig zugleich. Sie sind Orte der Verwandlung, Orte, die im Umbau begriffen sind, Elemente des Durchlassens wie Türen, Fenster, Gänge, Vorhänge, Wandschirme oder andere „schleusenartige“ Formationen. Sie sind keine bloße Kulisse, sondern stehen für die Bewegung im Bild. Landschaftselemente werden zum Beispiel oft durch Fortbewegung dargestellt, um die „Relativität“ zwischen Raum und Zeit in Bezug auf die menschliche Gestalt deutlich zu machen. Dem langsamen, dauerhaften Gedächtnis wird dabei der gleiche Wert beigemessen wie dem schnellen, augenblicklichen Erinnern.

Pierre Fischers Werk ist gekennzeichnet durch Kontinuität, die sich durch Selbstzitate, durch Neuinterpretation und Neuanordnung früher schon behandelter Themen ausdrückt, die er wieder aufgreift oder parallel in mehreren Techniken wie Zeichnung, Aquarell, Radierung oder Mischtechniken bearbeitet: Auch dies eine Art, im Prozess des Arbeitens selbst Erinnerung wachzurufen, das Gedächtnis anzuregen.

Pierre Fischer entwickelt eine Bildersprache, die für sich steht und deren Spektrum vom genauen Bildzitat bis hin zum Entwurf einer Traumwelt reicht. In der Polyfokalität seiner Bilder liegt ihr emotionales Potential, das Spannung erzeugt und wegführt von den ausgetretenen Pfaden der Wahrnehmung.


Alain Orry
Übersetzung aus dem Französischen: Odile Kennel

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